Die Frage sollte nicht lauten „Wie werden wir agil?“ sondern vielmehr „Wie werden wir in einem kleinen nächsten Schritt agiler? Und wofür eigentlich?“
Liebe Kathrin, Sie sind Führungskraft, erfolgreiche Personalexpertin, Motivator und mit Testbirds Vorreiter im Bereich Neues Arbeiten. Sie müssten es wissen - wo stehen wir auf dem Weg zu New Work wirklich?
Ich würde sagen, der Samen ist gesät. Vielleicht schaut auch schon ein Pflänzchen vorsichtig durch die Erde, aber bis die ganze Bewegung zu einem massiven Baum herangewachsen ist, wird es noch etwas dauern. Das liegt vor allem daran, dass es bei New Work zunächst nicht um das operative Tun geht. Nicht einmal um eine Strategie oder Vision. Sondern primär um eine neue bzw. reifere Denkweise und Werthaltung. Diese Veränderung unserer mentalen Modelle benötigt Zeit und Mühe.
Mal ehrlich, das haben viele schon vor Jahren so gesagt. Was ist nun plötzlich anders?
Aus der Humanistischen oder auch Positiven Psychologie kommend, sind die Erkenntnisse wahrlich nicht neu und schon in den 1950-er Jahren diskutiert worden. In der Philosophie noch viel früher. Aber vor 70 Jahren waren einfach andere Dinge deutlich wichtiger. Aus den Kriegsjahren hervorgehend erst einmal die Grundsicherung, wie Nahrung und physische Sicherheit. In den folgenden Generationen wurden diese existentiellen Gedanken und Werte langsam an die sich veränderten Lebensumstände angepasst. Mit all der Freiheit, die wir nun heute in vielen Teilen der Welt haben ist der Spielraum gegeben, sich mit all dem Weichen zu befassen und andere Bedürfnisse zuzulassen. Aus einer anderen Richtung wird das Thema wiederum durch das Erfordernis einer agilen Arbeitswelt befeuert, um den Anforderungen des Marktes zu genügen.
Und warum macht “Purpose” dabei so viel Sinn?
Wenn ich mich nicht mehr grundlegend damit beschäftigen muss, wie ich meine Familie ernähre oder einem starren (zum Teil elterlich geprägten) Bild von Status hinterherrenne, dann bleibt da ein offener Raum, der gefüllt werden mag oder vermutlich sogar muss. Der Mensch hat als Wesen schon immer nach etwas gestrebt, was über die bloße Existenz hinausgeht. Oftmals waren dies extern Ankerpunkte wie Religion, Politik oder sozialer Status, die dem eigenen Handeln und Wertesystem einen festen Rahmen gegeben haben. Heute wird der Blick individueller nach innen auf die eigene Selbstverwirklichung gerichtet, um dann wieder einen Sinn in der Außenwelt zu erfahren und sich mit dieser zu verbinden.
Mal unter uns, das wollen wir alle. Aber wie geht Arbeiten mit Purpose wirklich? Haben Sie ein Paar Tipps aus Ihrer Erfahrung?
Ganz platt gesagt, muss man sich Zeit nehmen! Das einfache „darüber Nachdenken“ welches Purpose Statement für einen passt, bringt uns unserem inneren Wertesystem nicht unbedingt näher. Wir wissen meistens gar nicht, was für uns der wesentliche Sinn unseres Tuns ist. Dieser ist uns kognitiv nicht zugänglich und wir müssen unser limbisches System ein bisschen anpieksen, um an ihn ranzukommen. Das gelingt durch gezielte Übungen und ein langsames Annähern an die eigenen Werte. Bei Testbirds haben wir mit einem Purpose Canvas gearbeitet (abgeleitet vom Team Canvas von Anja Vrany), der verschieden Aspekte rund um dem Purpose abdeckt, wie Freude, Impact, Interessen und Werte, und uns so unserem Sinn angenähert.Darüber hinaus haben wir uns sowohl mit dem Company Purpose, den Team Purposes und dem individuellen Purpose beschäftigt und einen Blick darauf geworfen, in welcher Verbindung diese zueinanderstehen. Für den individuellen Purpose haben wir uns die meiste Zeit genommen.Im Alltag spielt der Sinn unserer Arbeit und die Werte, die dahinter liegen oftmals in Entscheidungssituationen eine Rolle, aber auch in der grundsätzlichen Kultur wie wir miteinander und unseren Kunden umgehen wollen. Ganz konkret bei Fragen wie: „Warum bin ich gerade unzufrieden mit meiner Tätigkeit, obwohl ich objektiv nichts Schlechtes daran finden kann? Was muss ich tun, um wieder Erfüllung zu finden?“ „Wie muss ich ein Training zur Kundenkommunikation gestalten, damit dieses unserem Purpose entspricht?“ oder „Wie sollten wir unsere Mitarbeiter in diese oder jene Entscheidung einbeziehen?“
Und was ist Ihr eigener Purpose?
Wenn ich Menschen dabei unterstützen kann, sich selbst und andere besser zu verstehen und dadurch das Miteinander sinnvoller wird, dann habe ich meinen Purpose erfüllt.
Wie stellen Sie sicher, dass Sie auf Ihrem Weg bleiben?
Ich rede einfach viel darüber, was uns als Menschen ausmacht und schaffe mir hierfür Gelegenheiten. Durch den stetigen Austausch mit anderen entwickelt sich meine eigene Arbeit weiter und ich verstehe jeden Tag ein bisschen mehr.
Ihr Tipp für andere Anstifter in der Zukunft der Arbeit?
Oftmals wird über New Work sehr abstrakt gesprochen und geschrieben; ein Ideal geschaffen, welches niemand dauerhaft erreichen kann. Daher erhalte ich den meisten Zuspruch immer dann, wenn ich über ganz konkrete Situationen sprechen, die uns im Alltag begegnen und inwiefern wir heute anders damit umgehen als noch vor drei Jahren. Und auch darüber, wie schwer es uns Menschen fällt, immer positiv zu bleiben und auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Oftmals betrifft das einfache Führungssituationen und nicht große Projekte oder Strategien, die in Konzernen einfach zu weit entfernt und unerreichbar wirken. Somit rate ich anderen Anstiftern, bodenständig über die täglichen Herausforderungen zu sprechen, statt gleich das ganze Unternehmen umwälzen zu wollen. Die Frage sollte also nicht lauten „Wie werden wir agil?“ sondern vielmehr „Wie werden wir in einem kleinen nächsten Schritt agiler? Und wofür eigentlich?“
Kathrin Doering gestaltet seit 2014 das Arbeits(er)leben bei Testbirds als Head of HR und unterstützt Unternehmen und Privatpersonen als systemischer Coach und Trainer im Bereich der Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung. Über ihre Lieblingsthemen New Work und Purpose spricht und diskutiert die studierte Wirtschaftspsychologin als Expertin auf verschiedenen Events und auch unaufgefordert, wann immer sich die Gelegenheit bietet.